


Ein Wohnhaus am Hang über Bad Peterstal. Ein Nebengebäude, das aussieht wie eine kleine Werkstatt: Hier, im engen oberen Renchtal, liegt der Geburtsort des „amtierenden Gins des Jahres“, wie Hannes Schmidt betont. Der 47-Jährige steht im Nebengebäude zwischen Brennblasen aus Kupfer, Edelstahlrohren und großen Plastikkanistern. Und erzählt: Über hundert Mal sei „Boar – Blackforest Premium Dry Gin“ bei nationalen und internationalen Wettbewerben schon ausgezeichnet worden. Das habe mit einem der Geräte hinter ihm zu tun: „Wir stellen den neutralen Basisalkohol für unseren Gin selbst her, aus regionalem Bio-Korn. Wir können das, weil wir eine Rektifikationsanlage haben.“ Und die kann in einem 24-stündigen Arbeitsprozess hoch konzentrierten Alkohol produzieren. Um Gin zu machen, müsse der einen Alkoholgehalt von gut 96 Prozent haben – das schaffe eine normale Brennerei nicht, sagt Schmidt. „Deshalb wird Gin fast immer aus Industriesprit hergestellt.“ Als Schmidt 2014 mit seinen Freunden Markus Kessler und Torsten Boschert überlegte, eher als Hobby einen eigenen Gin zu entwickeln, wollten sie alles besser machen. Schmidt ist von Haus aus Betriebswirt, die anderen beiden sind Ingenieure; heute sind alle drei Geschäftsführer der Boar Distillery im Schwarzwald.
Brennereien haben im Schwarzwald Tradition, Gin eher nicht. Doch seit einigen Jahren gibt es immer mehr regionale Varianten der Wacholderspirituose – so wie Boar Gin aus Bad Peterstal. Als die Gin-Sache immer konkreter wurde, ließen sie die Anlage bauen – in ihrem kleinen Maßstab sei sie ein Prototyp, sagt Schmidt: „Das ist Raketenwissenschaft.“ Das Haus mit dem Nebengebäude, in dem die Kessel stehen, gehört der Familie von Markus Kessler; seit 1844 gibt es hier eine Familienbrennerei. Das Wasser dafür stammt aus eigener Quelle am Hang hinterm Haus. Brenntradition und moderner Anlagenbau, Verwurzelung im Renchtal und internationaler Gin-Trend – für Schmidt passt das alles gut zusammen. „Weder Gin noch sein Ursprung Genever waren früher in der Schwarzwaldregion besonders bekannt“, sagt Corinna Sauerburger von der Freiburger Weinhandlung Drexler. Sie ist Weinakademikerin, die Ausbildung umfasst auch Spirituosen. Für die Entstehung des Schwarzwälder Gin-Trends hätten sicherlich die Pioniere von „Monkey 47“ eine wichtige Rolle gespielt, sagt sie – der 2009 gegründete Gin mit 47 Zutaten fand auch international viel Beachtung; heute gehört die Destillerie zum Konzern Pernod Ricard.
Inzwischen ist die Schwarzwälder Gin-Landschaft vielfältig: Aus Oberkirch stammt der „Fies Black Forest Dry Gin“, aus Gengenbach der „Blackforest Wild Gin“, die für ihre Obstbrände bekannte Brennerei Schladerer in Staufen hat den „Gretchen Dry Gin“ im Programm, in Gallenweiler im Markgräflerland macht Iris Krader ihren „Iris Dry Gin“ – und es gibt noch einige mehr. Trotz fehlender Gin-Tradition seien die Voraussetzungen dafür in der Region gut, sagt Sauerburger: „Es gibt hier die lange Erfahrung der klassischen Brennereien im Obstbereich, gutes Wasser und Kräuter.“ Gleichzeitig seien die regionalen Hersteller einem internationalen Trend gefolgt: „Gin ist inzwischen mehr zum Mainstream geworden.“
Das liege auch an einer geschmacklichen Veränderung: Oft stehe der charakteristische Wacholder nicht mehr so stark im Vordergrund, Zitrusaromen seien prägend: „Viele Gins sind heute gefälliger, das spricht viele Menschen an.“ Da, wo jetzt Hannes Schmidt neben den kupfernen Brennblasen steht, war früher das Brennhäusle der Familie Kessler. „Hier wurden 170 Jahre nur Obst und Korn gebrannt, das sind unsere Wurzeln“, sagt er. Von Oberkirch das Renchtal hinauf bis Bad Peterstal gebe es 996 Hausbrennereien – das sei die höchste Dichte in ganz Europa. „Und alle brennen Obst.“ Das lohne sich oft kaum mehr, gehe meist nur im Nebenerwerb. Werde das Brennrecht aber nicht ausgeübt, erlösche es. „Das haben wir vor zehn Jahren erkannt und gesagt: Wer sein Brennrecht nicht mehr will, der soll zu uns kommen.“ Heute brennen viele Nachbarn die Maische für die Boar Distillery, die sie dann zum hochprozentigen Basisalkohol weiterverarbeitet.
Schmidt steigt in seinen alten Geländewagen, fährt den Hang hinunter und durch den Ort, am Ortsausgang biegt er ab. Hier, auf dem ehemaligen Parkplatz einer Spedition, steht der moderne Neubau des kleinen Unternehmens, Ende 2023 ist er fertig geworden: Lager, Büros, ein Showroom für Tastings. Schmidt greift zur Flasche, präsentiert seinen Gin, lässt die Gäste riechen und schmecken. Wacholdernoten stehen im Zentrum, Lavendel und Zitrone. Von einem allzu gefälligen Gin hält er wenig: „Wenn ein Wacholderdestillat nur noch wenig mit Wacholder zu tun hat, hat man einen Zitronengeist.“ 19 sogenannte Botanicals werden bei der Herstellung des Boar Gins dem Basisalkohol zugesetzt; Schmidt verrät sie nicht alle. Schwarzwälder Burgundertrüffel sind jedenfalls auch dabei, sie sollen Bitterstoffe neutralisieren und dem Gin die Schärfe nehmen. Und sie sorgten für den Namen des Gins aus Bad Peterstal: Boar ist das englische Wort für einen Keiler, ein männliches Wildschwein – obwohl eigentlich weibliche Schweine nach Trüffeln suchen. Aber die drei männlichen Geschäftsführer fanden dann doch den Keiler passender.
Sieben Tage bleiben die Botanicals im Alkohol liegen, während dieses Mazerationsprozesses gehen die Aromen in die Flüssigkeit über, die anschließend mit Wasser verdünnt, noch einmal gebrannt und wieder verdünnt wird. Der fertige Gin hat einen Alkoholgehalt von 43 Prozent. „Die übrigen 57 Prozent sind bestes Peterstaler Quellwasser“, sagt Schmidt. Die Wacholderbeeren kommen übrigens aus der Toskana und Slowenien, die Zitronen aus Portugal, der Lavendel aus der Provence. „Natürlich ist Regionalität wichtig“, sagt er, „aber am Ende zählt die Qualität.“ Die Nachfrage nach regionalem Gin sei inzwischen recht stabil, sagt Corinna Sauerburger. Daneben habe sich auch bei klassischen Bränden viel getan: „Die Brenner sind innovativer geworden.“ Die Brennerei Faude aus Bötzingen etwa habe auch Mandarine, Gurke und Rote Bete im Programm. Und ein neuer regionaler Trend zeichne sich mit Marken wie Apros oder Belsazar beim Wermut ab – einem gewürzten Getränk auf Weinbasis.
Boar sei immer noch ein kleiner Gin-Hersteller, sagt Schmidt. Genaue Zahlen nennt er nicht. Man verkaufe über den Direktvertrieb, über Fachgroßhändler, die auch die Gastronomie beliefern, und den Einzelhandel. Er hoffe auf wirtschaftlich gute Zeiten: „Dann gönnen sich die Menschen Qualität.“ Der Hype sei zwar vorbei. „Aber Gin ist inzwischen bei uns als Standard angekommen, so wie in anderen Ländern schon länger.”